Wie Phantomstaus entstehen - und vermieden werden können
Staus nerven. Immer. Besonders ärgerlich ist der Phantomstau, denn es ist keine Ursache erkennbar. Experimente zeigen: Er wäre vermeidbar. Wenn Autofahrer nur besser zusammen arbeiten würden.
Es stockt mal wieder alles. Nur Meter für Meter wälzt sich die Blechkolonne auf der Autobahn voran. Die Minuten verrinnen, der Fortschritt ist überschaubar. Stau kostet Zeit, strengt an und verdirbt die Laune. Oft sind Baustellen oder Unfälle die Ursache, an manchen Knotenpunkten ist schlicht die Verkehrsdichte zu hoch für den zur Verfügung stehenden Verkehrsraum. Und manchmal wundert man sich nach kilometerlangem Stop and Go: Keine Baustelle weit und breit, und gottlob auch keine Unfallstelle auszumachen.
Gut möglich, dass die Autofahrer Opfer eines der nervigsten, weil unnötigsten Vertreter seiner Art wurden: dem "Stau aus dem Nichts“. In der Verkehrsforschung wird er auch "Phantomstau“ genannt. Und er könnte vermiden werden, wenn wir als Autofahrer nur besser zusammenarbeiten würden.
Wie entsteht ein Phantomstau?
Dass Unfälle, Baustellen, "Elefantenrennen" oder Überlastung der Infrastruktur den Verkehr auf den Autobahnen zum Erliegen bringen, leuchtet ein. Die Besonderheit eines Staus aus dem Nichts ist, dass er sich ohne Blockade, ohne Spurverengung oder Überlastung bildet. Es ist ein wenig wie beim Schmetterlingseffekt. Hier besagt die Theorie, dass ein Flügelschlag auf der anderen Seite der Erde einen Wirbelsturm auslösen kann. Ganz ähnlich kann ein einzelner Autofahrer mit einem kurzen Tritt auf die Bremse einige Kilometer hinter sich den Verkehr zum Erliegen bringen. Doch während es beim Schmetterlingseffekt um die Unvorhersehbarkeit bestimmter Ereignisse geht, ist der Stau aus dem Nichts eigentlich vorhersehbar.
Der Phantomstau entsteht durch eine unhomogene Fahrweise der Verkehrsteilnehmer. Geht der erste Autofahrer nur kurz vom Gas und verringert damit seine Geschwindigkeit, muss der Hintermann, will er den Abstand einhalten, bereits auf die Bremse treten. Der Fahrer dahinter wiederum sieht die Bremslichter aufleuchten und geht noch stärker in die Eisen. Eine Kettenreaktion wurde in Gang gesetzt. Sie bewegt sich mit etwa 15 Kilometern pro Stunde entgegen der Fahrtrichtung und bringt einige Kilometer weiter das erste Auto zum Stehen. Der "Stau aus dem Nichts" entsteht. Der Fahrer, der ihn verursacht hat, bekommt sein "Werk" gar nicht mit.
Das Phantomstau-Experiment
Der japanische Physiker Yuki Sugiyama hat die Bildung von Phantomstaus in einem Experiment untersucht. Dafür ließ er 22 Fahrzeuge auf einem Kreis mit einem Umfang von 230 Metern fahren. Vorgabe: Sie sollen mit einer Geschwindigkeit von 30 km/h und gleichbleibendem Abstand zum Vordermann fahren. Trotzdem geriet die Kreisfahrt nach nur 14 Sekunden ins Stocken. Nach 40 Sekunden kam das erste Auto zum Stehen.
Sugiyama fand heraus, dass es eine kritische Dichte für den Verkehr gibt, ab der Phantomstaus nicht mehr verhinderbar sind. Bei einer Geschwindigkeit von 120 km/h liegt die kritische Dichte bei 25 Fahrzeugen pro Kilometer. Kommt ein weiteres Fahrzeug hinzu, reicht schon die geringste Abweichung der Geschwindigkeit eines einzelnen Fahrers und es kommt zum Stau.
Wie können Phantomstaus vermieden werden?
Phantomstaus lassen sich also nicht gänzlich vermeiden. Überschreitet die Verkehrsdichte einen bestimmten Wert, müssten alle Autofahrer absolut synchron fahren. Unmöglich. Es gibt aber Verhaltensweisen, mit denen der Stau verkürzt und schneller aufgelöst werden kann. Generell gilt: Autofahrer sollten Situationen vermeiden, in denen stark abgebremst werden muss. In plötzlich auftretenden Gefahrensituationen geht das natürlich nicht, doch oft sind schlechte Angewohnheiten dafür verantwortlich:
- Lückenhüpfen
Der Mensch fühlt sich offenbar gerne benachteiligt. Das gilt für den Autofahrer ganz besonders. Laut einer US-Studie glauben Autofahrer im Stau, sie kämen weniger schnell voran als die anderen Verkehrsteilnehmer. Ihr Gefühl sagt, sie würden von doppelt so vielen Fahrzeugen überholt, als sie selbst überholen. Das verleitet sie dazu, die Spur zu wechseln, sobald es auf der Nebenspur scheinbar besser vorangeht. Scheint es dann wieder auf der anderen Spur zu fließen, wechseln sie wieder zurück.
Doch die Grundannahme, dass sie dadurch schneller vorankommen, ist falsch. Untersuchungen zeigen: Wer sich eine halbe Stunde durch den Stau gequält hat, hat im Wesentlichen immer noch dieselben Fahrzeuge neben, vor und hinter sich. Egal, ob er oft die Spur wechselt oder sich fatalistisch trieben lässt. Die Blechlawine bewegt sich in der Realität relativ gleichförmig. Mal geht es auf der einen Spur schneller, mal auf der anderen.
Daran ändert das Lückenhüpfen nichts. Doch es verschlechtert den Verkehrsfluss insgesamt. Fahrer, die Lückenhüpfer vor sich einscheren lassen, müssen in der Regel abbremsen. Damit stoßen sie wieder eine Brems-Kettenreaktion an. Dadurch verlängert sich der Stau nach hinten. Lückenhüpfer schaden also allen, ohne selbst einen Vorteil herauszufahren.
- Unaufmerksamkeit am Steuer
Weniger vom Egoismus motiviert, aber ähnlich schädlich, können unaufmerksame Autofahrer sein. Wer im Stau am Radio rumspielt, WhatsApp-Nachrichten auf dem Handy checkt oder einfach vor sich in träumt, wird oftmals überrascht und muss plötzlich bremsen. Oder er vertrödelt den Moment, wenn es weitergeht und versucht das durch zügige Beschleunigung auszugleichen. Was etwas später wieder starkes Abbremsen zur Folge hat. Der Stau wird schlimmer.
Ziel der Autofahrer muss sein, mit den anderen Autofahrern zusammen möglichst gleichförmig zu bremsen und anzufahren. Autofahrer sollten daher nicht nur das direkt vor ihnen fahrende Auto im Blick haben, sondern weit vorausschauen. Leuchten zwei, drei Fahrzeuge weiter vorne die Bremslichter auf, kann man selbst rechtzeitig die Geschwindigkeit verlangsamen. Dadurch muss man weniger stark auf die Bremse treten oder kann es sogar komplett vermeiden. Die Brems-Kettenreaktion nach hinten schwächt sich ab. Es entsteht "nur noch" stockender Verkehr, statt Stillstand.
- Zu starkes Beschleunigen
Vor allem, wenn der Stau sich aufzulösen scheint, reagieren viele Autofahrer - vermutlich ungeduldig oder begeistert - mit starker Beschleunigung. Endlich geht es wieder voran! Die Freude ist oft nur von kurzer Dauer. Schon nach der nächsten Kuppe oder Biegung steht der Verkehr wieder oder gerät zumindest ins Stocken. In der Folge müssen die Beschleuniger wieder stark verzögern, die Autofahrer dahinter noch stärker und so weiter. Wieder wird eine Stau-Kettenreaktion in Gang gesetzt.
Sinnvoller ist es, das Tempo bei sich auflösendem Stau behutsam zu erhöhen und viel Abstand zum Vordermann einzuhalten. Dadurch gibt man sich genug Raum, um beim nächsten Stocken moderat verzögern zu können. Wer weit vorausschaut, kann zudem früh erkennen, dass der Stau noch nicht zuende ist sondern nur eine "Pause" einlegt. Fährt man dann mit niedrigem Tempo weiter, bleibt mehr Zeit, damit die Situation voraus sich entschärfen kann. Dort angekommen, muss man weniger abbremsen und kann vielleicht sogar ohne zu Bremsen durchrollen.
- Zu dichtes Auffahren
Mittlerweile sollte das Muster klar sein: Das Hauptproblem beim Phantomstau sind in aller Regel Bremsmanöver. Wann immer ein Fahrer stärker in die Eisen gehen muss und der Hintermann zu wenig Platz hat, wird die Stau-Kettenreaktion in Gang gesetzt. Deshalb kann auch zu dichtes Auffahren einen Phantomstau auslösen. Je weniger Platz man sich selbst lässt, um Unregelmäßigkeiten im Verkehrsfluss auszugleichen, um so stärker muss man bremsen. Umso stärker muss das nachfolgende Auto bremsen und umso schneller entsteht der Stau. Bei einem ausreichenden Abstand zum Vordermann kann dessen Bremsverhalten besser ausgeglichen werden.
Staus schaden uns und der Umwelt
Im Jahr 2018 bildeten sich auf Deutschlands Straßen 745.000 Staus. So viele wie nie zuvor. Sie hatten eine Gesamtlänge von 1.528.000 Kilometern. Zum Vergleich: Das ist etwa vier Mal die Strecke von der Erde bis zum Mond. Klar, manche Staus sind unvermeidbar. Doch zwischen 10 und 20 Prozent der Staus entstehen nicht durch Behinderungen oder Unfälle, sondern durch unsere Fahrweise. Viele dieser Staus wären vermeidbar, sagen Verkehrsforscher. Wenn wir kooperativer wären. Wer auf der Autobahn weniger gehetzt unterwegs ist, weniger aggressiv fährt und mehr Geduld übt, mag gefühlt öfter langsamer fahren. Schneller voran kommt er trotzdem und verbraucht dabei sogar weniger Sprit. Das schont die Umwelt und spart Geld. Für alle.
Was außerdem nervt sind Blinkmuffel. Darüber liest Du im ersten Teil von “Das nervt! Ärgernisse im Straßenverkehr”.