Müssen Senioren bald ihre Fahrtauglichkeit testen lassen?
Die EU schlägt vor, die Fahrtauglichkeit von Personen über 70 Jahren turnusmäßig überprüfen zu lassen. Wir erklären, was dafür und was dagegen spricht.
- Senioren sind nur halb so oft in Unfälle verwickelt wie Jüngere
- Wissing hält nichts von einem Tauglichkeitstest für Senioren
- Ob das eine gute Idee ist?
- Spanien setzt schon ab 45 Jahren auf einen Gesundheitstest
- Trotz regelmäßiger Tests gibt es in Italien mehr Verkehrstote
- Die Schweiz testet die Fahrtauglichkeit ab 75 alle zwei Jahre
- Die ganz Alten verursachen so viele Unfälle wie Fahranfänger
- Seminarangebote für Senioren sollen die Sicherheit erhöhen
- Bundesweite Fahrsicherheitstage für Senioren sind kostenlos
- FDP und Union sind gegen den Senioren-Führerschein-TÜV
- "Kleinere Schäden am Auto sind ein Zeichen für eine abnehmende Fahrtüchtigkeit"
Sicher kennt jeder von uns Situationen, in den man sich fragt, wie sinnvoll es ist, dass der Führerschein quasi auf Lebenszeit erteilt wird. Auch die EU stellt nun diese Frage. Die Kommission will die sogenannte Führerschein-Richtlinie ändern. Auf den ersten Blick geht es um die Gültigkeit des Dokuments, das in regelmäßigen Abständen erneuert werden muss. Wer die Richtlinie genauer anschaut, entdeckt darin den Vorschlag, die Fahrtauglichkeit von Personen über 70 Jahren turnusmäßig überprüfen zu lassen. Wir erklären, was dafür und was dagegen spricht.
Das Wichtigste auf einen Blick:
- Die EU will die Führerscheine von Autofahrern ab 70 Jahren mit einer Gültigkeit von fünf Jahren versehen.
- Dabei sind Senioren ab 65 Jahren nur für 14,5 Prozent der Unfälle verantwortlich, obwohl sie knapp ein Fünftel der Bevölkerung repräsentieren.
- Erst die über 75-Jährigen verursachen so viele Unfälle wie Fahranfänger mit 20 Jahren.
- Bundesverkehrsminister Volker Wissing hält nichts von Fahrtauglichkeitsprüfungen für Ältere.
- Viele EU-Länder testen regelmäßig den Gesundheitszustand, in Spanien bereits ab dem 45. Lebensjahr.
Senioren sind nur halb so oft in Unfälle verwickelt wie Jüngere
Dass Verkehrsteilnehmer ab 65 Jahren besonders häufig in Unfälle verstrickt sind, mag ein weitverbreitetes Vorurteil sein, aber eine Auswertung des Online-Portals Statista widerspricht ihm. Die Zahlen sind klar: In Deutschland waren 2021 22,1 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre und älter. Diese Altersgruppe war nur für 14,5 Prozent aller Unfälle mit Personenschäden verantwortlich. Richtig ist, dass die Senioren insgesamt weniger auf den Straßen unterwegs sind. Auch dann, wenn man die geringe Fahrleistung berücksichtigt, sind die Autofahrer ab 65 Jahren nur halb so oft in schwere Unfälle mit Verletzten verwickelt wie die 18- bis 25-Jährigen, das zeigen Zahlen des Bundesverkehrsministeriums.
Wissing hält nichts von einem Tauglichkeitstest für Senioren
Auf dieser Datenbasis erkennt das Ministerium bislang keine Notwendigkeit für einen sogenannten Senioren-TÜV, selbst wenn er mit der neuen Führerschein-Richtlinie durchaus in den EU-Rechtsrahmen fallen würde. Der Vorschlag der Eurokraten, den Führerschein ab 70 Jahren mit einer Gültigkeitsdauer von fünf Jahren zu versehen, kommt im deutschen Verkehrsministerium jedenfalls nicht gut an. Verkehrsminister Wissings Ministerium twittert dazu: "Für den neuen #EU-#Führerschein zur #Fahrtauglichkeitsprüfung? Nein! Egal, wie alt man ist. Von der Idee, dass sich Senioren ab einem bestimmten Alter ohne weiteren Anlass regelmäßig einem Tauglichkeitstest unterziehen müssen, halte ich nichts."
Ob das eine gute Idee ist?
Wir haben in Hamburg nachgefragt. Hier kommen die Antworten!
Spanien setzt schon ab 45 Jahren auf einen Gesundheitstest
Andere EU-Länder sind nicht dieser Meinung. Italien, die Niederlande oder Schweden haben längst verschiedene Maßnahmen eingeführt, mit denen sie die Fahrtauglichkeit der Senioren überprüfen und ihre Fahrerlaubnis zeitlich beschränken. In Spanien müssen Autofahrer bereits ab 45 Jahren zum Gesundheitstest. In den meisten Ländern gehört ein ärztlicher Check zum Umfang der Auflagen, mit denen die Fahrtauglichkeit überprüft wird. Dennoch sinken die Unfallzahlen mit diesen Maßnahmen bislang nicht signifikant. Eine mögliche Ursache könnte sein, dass die 65-plus-Jährigen den Gang zum Arzt vermeiden, weil sie die Konsequenzen der Diagnose fürchten und sich weiterhin ungetestet ans Steuer setzen.
Trotz regelmäßiger Tests gibt es in Italien mehr Verkehrstote
In Italien läuft der Führerschein nach spätestens zehn Jahren ab. Und wer einen neuen haben will, muss sich ärztlich untersuchen lassen. Dabei wird kontrolliert, ob die Person gut genug sieht oder hören kann, um fahren zu können. Zusätzlich zur Untersuchung gilt es, einen Fragebogen auszufüllen und darin Krankheiten aufzuführen. Gefragt wird zum Beispiel nach Diabetes oder nach Herzerkrankungen, ein ärztliches Attest müssen Menschen unter 80 aber nicht mitbringen.
Autofahrer zwischen 50 und 70 Jahren sind dazu alle fünf Jahre verpflichtet, zwischen 70- und 80-Jährige müssen die Fahrerlaubnis alle drei Jahre erneuern, wer über 80 Jahre alt ist, muss ein ärztliches Attest vorweisen und seine Fahrerlaubnis jedes zweite Jahr verlängern. Diese Regeln gelten bereits seit 1933. Weil Italien bereits seit 90 Jahren auf das System der fortwährenden Führerschein-Erneuerung setzt, lässt sich über dessen Wirksamkeit auf die Unfallzahlen kaum etwas sagen, denn es fehlt der Vorher-nachher-Vergleich.
Allerdings liegt Italien trotz der ausgeklügelten Regelung in der Statistik der Verkehrstoten in Europa weit vor Deutschland. Pro 100.000 Einwohner starben in Italien 2022 53 Menschen im Straßenverkehr, in Deutschland dagegen 34, im EU-Schnitt waren es 46. Offensichtlich gehören Deutschlands Straßen in Europa zu den sichersten überhaupt, ganz ohne TÜV für unsere älteren Mitbürger und Mitbürgerinnen.
Die Schweiz testet die Fahrtauglichkeit ab 75 alle zwei Jahre
In der Schweiz hat man die Ängste der Älteren vor dem Verlust der individuellen Mobilität in das dortige Modell miteinbezogen. Hier müssen Führerscheininhaber ab 75 alle zwei Jahre zum Check. Fallen sie bei der Fahrtauglichkeitsprüfung durch, verlieren sie ihren Führerschein aber nicht komplett. Denn in der Schweiz ist es möglich, die Fahrerlaubnis auf bestimmte Straßentypen, auf Tageszeiten oder auf Fahrzeugausstattungen zu beschränken. Ohnehin stellt das Autofahren nicht die Älteren, sondern die ganz Alten vor größere Probleme, beobachten Sicherheitsexperten.
Die ganz Alten verursachen so viele Unfälle wie Fahranfänger
Bei der Bestätigung dieser Aussage hilft ein erneuter Blick in die Statistik. Werden die 75 Jahre überschritten, steigt die Zahl der schweren Unfälle beträchtlich und liegt, bereinigt um die Jahresfahrleistung, auf dem Niveau der ganz jungen Fahranfänger zwischen 18 und 20 Jahren. Fehler beim Abbiegen, beim Wenden oder Rückwärtsfahren sind häufige Ursachen für Unfälle im hohen Alter.
Lies hier, wie Du Dich auf den Test vorbereiten kannst.
Seminarangebote für Senioren sollen die Sicherheit erhöhen
Wer seine Fähigkeiten, am Verkehr teilzunehmen, auf freiwilliger Basis überprüfen und verbessern will, findet dazu verschiedene Angebote. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) nennt sein Programm „sicher mobil“.
Zielgruppe sind ältere Menschen ab 65 Jahren, die aktiv am Straßenverkehr teilnehmen, ganz gleich, ob sie mit dem Auto, dem Fahrrad, dem E-Bike oder zu Fuß unterwegs sind. Ziel des Programms ist es, die sichere Mobilität im Alter zu erhalten. Die Teilnehmer sollen lernen die eigene Leistungsfähigkeit besser einzuschätzen. Als Seminarprogramm ausgerichtet, greift das Programm alle Formen der Mobilität auf. Zentrale Themen jeder Veranstaltung sind Gefahrensituationen im Straßenverkehr, alte und neue Regeln sowie die Auseinandersetzung mit der eigenen Leistungsfähigkeit und Gesundheit.
Speziell ausgebildete Moderatoren gehen bei den kostenfreien Veranstaltungen auf individuelle Interessen und Fragestellungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein. Die Veranstaltungen werden ganzjährig in kleinen Gruppen (acht bis 20 Personen) von den Partnern des DVR durchgeführt und deutschlandweit angeboten. Fündig werden Interessierte auch bei der Deutschen Verkehrswacht. Hier lautet das Motto: "Mobil bleiben, aber sicher!"
Bundesweite Fahrsicherheitstage für Senioren sind kostenlos
Die Deutsche Verkehrswacht will Erlebnistage zur sicheren Mobilität im Alter anbieten. Fahrsituationen werden hier durchgespielt, bei denen es durchaus zu einem Unfall kommen kann (und sogar soll). Allerdings nur am Pkw-Fahrsimulator. Die Senioren sollen sich fragen: War ich abgelenkt? Wäre ich vielleicht doch rechtzeitig zum Stehen gekommen, wenn ich schneller reagiert hätte? Die Verkehrssicherheitstage sollen Antworten auf diese und viele weitere Fragen zur sicheren Mobilität im Alter geben.
Technisch unterstützt werden die Erlebnisse durch verschiedene Aktionsgeräte, wie den angesprochenen Pkw-Simulator oder Seh- und Reaktionstestgeräte. Die Verkehrssicherheitstage werden bundesweit an sehr unterschiedlichen Orten angeboten: bei Dorf- und Stadtfesten, Seniorentagen oder Messen für Senioren ebenso wie in Seniorenfreizeitstätten. Sie sind kostenlos und können ohne Anmeldung besucht werden.
FDP und Union sind gegen den Senioren-Führerschein-TÜV
Neben dem FDP-geführten Verkehrsministerium sind vor allem Unionspolitiker gegen einen verbindlichen Senioren-TÜV, während ihn grüne Politiker befürworten. Sie sehen keine Altersdiskriminierung in der Maßnahme, sondern ein effektives Mittel, die Verkehrssicherheit für alle zu verbessern. Häufig wird als Begründung das italienische Modell als Vorbild herangezogen.
Wann der so genannte Senioren-TÜV Realität werden könnte oder andere Teile der EU-Führerscheininitiative umgesetzt werden sollen, ist offen. "Der Vorschlag der Kommission wird derzeit in der zuständigen Ratsarbeitsgruppe zwischen den Mitgliedstaaten beraten. Derzeit ist nicht absehbar, wann diese Beratungen abgeschlossen sein werden, sodass zum weiteren Zeitplan keine Aussagen getroffen werden können. Eine Überführung in nationales Recht erfolgt erst, nachdem das europäische Gesetzgebungsvorhaben abgeschlossen ist", teilte das Bundesministerium für Digitales und Verkehr auf unsere Anfrage mit.
Die Diskussion über eine mögliche Fahrtauglichkeitsprüfung für Senioren in Deutschland wird uns weiterhin begleiten – einen großen Einfluss haben die engsten Verwandten. Woran man erkennt, dass man mit den Angehörigen das Thema ansprechen sollte, und wie man am besten vorgeht, erklärt der ADAC-Verkehrspsychologe Ulrich Chiellino im Interview.
"Kleinere Schäden am Auto sind ein Zeichen für eine abnehmende Fahrtüchtigkeit"
Wie erkenne ich Anzeichen einer beginnenden Fahruntauglichkeit?
"Mit dem Alterungsprozess gehen immer schleichende Veränderungen einher. Allgemein vergrößert sich die Unsicherheit in verschiedenen Situationen und das Stressempfinden steigt. Das bekommen auch die Angehörigen mit, wenn im Gespräch beispielsweise häufiger darüber geklagt wird, dass alles immer schneller abläuft. Klare Zeichen für eine abnehmende Fahrtüchtigkeit sind kleinere Schäden am Auto, die gehäuft auftreten: Spiegel, die abgefahren werden, Stoßstangen, die eine Delle oder einen Kratzer abbekommen. Wenn so etwas zwei- oder dreimal im Jahr geschieht, ist das schon ungewöhnlich."
Wie bringe ich den Senioren in meinem Umfeld schonend bei, dass sie über eine Nachschulung oder sogar über das Abgeben des Führerscheins nachdenken sollten?
"Das Gespräch sollte es ermöglichen, die eigene Wahrnehmung mit dem Selbstbild vergleichen zu können. Was fällt im Alltag zunehmend schwerer, was gelingt noch gut? Das bietet die Chance, den Senior oder die Seniorin darauf hinzuweisen, wenn Fremd- und Selbstwahrnehmung zunehmend auseinanderklaffen. Das Risiko im Straßenverkehr steigt dann, wenn bestehende Defizite nicht ausreichend reflektiert werden. Entscheidend ist, den Fahrstil an die Veränderung anzupassen."
Können Fahrtrainings und Schulungen helfen, verloren gegangene Fähigkeiten im Straßenverkehr zurückzubekommen?
„Wir beobachten, dass die Gruppe der 75-plus-Jährigen in den vergangenen Jahren ständig gewachsen ist und mittlerweile in Deutschland bei 11,2 Prozent der Gesamtbevölkerung liegt. Dennoch geht von dieser Alterskohorte keine erhöhte Unfallgefahr aus. Das liegt auch daran, dass viele Ältere sich im Verkehr selbst beschränken, sie fahren beispielsweise nicht mehr bei Dunkelheit oder nur noch bekannte Strecken, meiden die Autobahnen und Schnellstraßen. Aus unserer Erfahrung sind Fahrtrainings probate Mittel, Sicherheit im Straßenverkehr zurückzugewinnen. Dafür reichen oft schon wenige Fahrstunden. Viele Fahrschulen bieten die sogenannten Fahrfitnesschecks unter Aufsicht eines Fahrlehrers an.
Sollten sich ältere Personen von ihrem bisherigen Fahrzeug trennen wollen, ist es ratsam, auf einige Eigenheiten beim neuen Auto zu achten. Eine gute Rundumsicht gehört dazu oder Extras wie eine Rückfahrkamera und weitere Assistenzsysteme, die den Umgang mit dem Auto erleichtern.”