Jaguar XJ220: Gescheiterter Rekordhalter
1992: Das schnellste Auto der Welt enttäuscht seine Kunden bitter: Der XJ220 ist nicht das, was Jaguar einst versprach. Trotzdem wird er zur Autobahnlegende.
Er hätte der große Star sein können, der begehrteste Supersportwagen von allen. Ein Auto, das Ferrari F40 und Porsche 959 in allen Belangen abhängt. Doch der Jaguar XJ220 floppt. Bei seiner Premiere widerrufen viele Käufer ihre Vorbestellungen. Sie lassen sogar ihre Anzahlung von 50.000 Pfund sausen, damals knapp 140.000 DM. Von einst 1.500 Interessenten bleibt nicht einmal ein Fünftel übrig.
Die Legende XJ220 zerbricht 1992 an schlechtem Timing, einer Firmenübernahme, einer platzenden Spekulationsblase und nicht eingehaltenen Versprechen. 350 Autos will Jaguar ursprünglich bauen. Tatsächlich werden es nur 271. Eine schlechte Ersatzteilversorgung lässt den Wert purzeln. Erst spät berappelt sich der Jaguar. Heute gilt er trotz seiner Macken und Schwächen als eines der tollsten Autos der 1990er-Jahre.
Wer ihn beherrscht, erlebt pures Glück. Der Jaguar XJ220 ist laut und stark, beschleunigt und bremst enorm.
In der anfänglichen Enttäuschung gehen seine Qualitäten unter: Er ist 1992 das schnellste Auto der Welt – auf der Autobahn und auf der Rennstrecke. Sein Spitzentempo liegt bei rund 340 km/h, als Ferrari mit dem F40 gerade so die 320 knackt. Ein Prototyp des XJ220 umrundet die Nordschleife des Nürburgrings in 7:46 Minuten. Zu dieser Zeit braucht ein Porsche 911 Turbo noch 25 Sekunden länger.
Der Jaguar XJ220 in Kürze
- Britischer Supersportwagen ab 1992
- 3,5-Liter-V6-Biturbo mit 550 PS
- Ursprüngliche Limitierung: 350 Stück
- Gebaute Exemplare: 271
- Basispreis 1992: 1.000.000 DM
- Beim Marktstart schnellstes Auto der Welt
Der Samstagsclub erfindet den XJ220
Die Geschichte des XJ220 beginnt mit einem ehrgeizigen Chefingenieur. Jaguar-Entwickler Jim Randle kennt die Supersportler von Ferrari und Porsche und findet, seine Marke könne ein besseres Auto bauen. Er trommelt freiwillige Mitarbeiter zusammen, die gemeinsam mit ihm nach Feierabend und an freien Tagen einen Supersportwagen konstruieren. Die Gruppe nennt sich wegen ihrer ungewöhnlichen Arbeitszeiten „Saturday Club“ – der Samstagsclub.
Was heimlich in der Freizeit entsteht, gefällt dem Jaguar-Vorstand. Die Basis für die Sportwagen-Idee bildet der Le-Mans-Sieger von 1988, der Jaguar XJR-9. Der Name XJ220 benennt die beeindruckendste Eigenschaft: 220 steht für ein angepeiltes Spitzentempo von 220 Meilen pro Stunde, also 354 km/h. Die Chefs veranlassen den Bau einer Studie.
Sie ist das Highlight der British Motorshow 1988. Ein hüfthohes Ungetüm mit gut fünf Metern Länge und beinahe Lkw-Breite, einem Zwölfzylinder-Saugmotor, Allradantrieb und Scherentüren. Das perfekte Auto zum perfekten Zeitpunkt: Supersportwagen gewinnen seinerzeit stark an Wert. Ein Verlust? Ausgeschlossen, erst recht bei einem Auto wie dem XJ220, das es vorher noch nicht gab. 1.500 Interessenten bewerben sich bei Jaguar. Jeder ist bereit, 413.000 Pfund (umgerechnet eine Million D-Mark) für den bildhübschen Sportler auszugeben. 350 von ihnen erhalten den Zuschlag und leisten ihre Anzahlung. Die Serienproduktion scheint sicher.
Ford kürzt die Mittel für den XJ220
Tatsächlich wackelt der Bau des XJ220 gewaltig. Ford übernimmt Jaguar im Jahr 1989. Die Controller rechnen, dass das Projekt zu viel kostet. Und streichen Besonderheiten: Die Türen öffnen zur Seite, der Allradantrieb fliegt raus und der 6,2-Liter-Sauger weicht einem Sechszylinder-Turbobenziner. Das Serienmodell sieht zwar noch aus wie die Studie, ist aber ein völlig anderes Auto.
Der Umbau hilft dem XJ220 in gewisser Weise. Sein neuer V6 liefert mehr Power, 550 statt der angekündigten 527 PS. Mit halber Zylinderanzahl und ohne Allradantrieb wird er leichter, das Auto wiegt weniger als anderthalb Tonnen. Es hilft nichts: Profi-Rennfahrer Andy Wallace erreicht mit dem XJ220 nur ein Höchsttempo von 341 km/h. Er müsste also streng genommen XJ212 heißen, weil er eben nur 212 Meilen pro Stunde schafft.
Hinzu kommt der überraschende Wertverfall von Supersportwagen. 1989 kostet der teuerste gebrauchte Ferrari F40 noch 3,2 Millionen Mark – obwohl er noch gebaut wird und für 444.000 DM in der Preisliste steht. Kurz darauf platzt die Spekulationsblase für die Supersportler. Ein Jahr später erzielt Sotheby’s in Monaco für einen F40 nur noch 1,8 Millionen. Investoren beginnen, sich vom Thema Sportwagen abzuwenden.
Schneller als alle anderen, aber zu langsam
Darunter leidet auch der XJ220. Da helfen auch die prominenten Kunden, unter anderem Elton John und der Sultan von Brunei, nicht. Um die Popularität zu steigern, tritt Jaguar in Le Mans beim 24-Stunden-Rennen an. Und gewinnt! Doch der Sieg wird den Briten nachträglich aufgrund fehlender Katalysatoren aberkannt. Das Image ist ramponiert, Käufer bleiben aus. Im extra gebauten Werk in Bloxham entstehen bald darauf Aston Martin DB7.
Mangels Interesses am Auto stockt die Produktion von Verschleißteilen. Auf der Hinterachse fährt der XJ220 ungewöhnliche Reifen: Die Gummis in der Größe 345/35 R18 stecken nur auf dem Jaguar und auf der ersten Generation der Dodge Viper. Für eine Handvoll Autos lohnt sich die Produktion nicht. Alternativen mit ähnlichem Maß sind nicht verfügbar. Mit alten, harten Reifen fährt man keinen Supersportler. Der Jaguar verkommt zum statischen Kunststück und kostet lange Zeit weniger als 100.000 Euro.
1968 feiert der XJ Premiere. Über die Jahre blieb Jaguar dem Design treu. Erst mit dem X351 im Jahr 2009 verabschieden sich die Briten von der traditionsreichen Optik.
Ein Rennwagen für die Straße
Viel Geld für ein Auto, das nicht fährt. Ein Spottpreis für ein Auto wie den XJ220. Besitzer berichten, dass er sich selbst nach heutigen Maßstäben noch wahnsinnig schnell anfühlt. Seine Leistung entwickelt sich so brachial, dass viele Piloten überfordert sind. Bei Probefahrten kommt es immer wieder zu Unfällen. Wahlweise von Interessenten oder Mechanikern.
Wer ihn beherrscht, erlebt pures Glück. Einer, der einen XJ220 besitzt, berichtet: Die Bezeichnung „Rennwagen für die Straße“ treffe auf kein anderes Auto besser zu. Der Jag ist laut und stark, beschleunigt und bremst enorm. Beim Fahren mag manches fehlen, zum Beispiel Komfort, aber bestimmt kein Zwölfzylinder – dafür fühlt sich der V6 zu roh und kraftvoll an. Bei 4.500 Umdrehungen liegt das maximale Drehmoment von 645 Nm an.
Praktisch ist der XJ220 natürlich nicht. Die Hebelkräfte in Pedalen und Lenkrad sind unnatürlich hoch. Der Motor dröhnt im Leerlauf, bis 2.000 Umdrehungen klingt er nach einer teuren Werkstattrechnung. Und danach: überraschend normal. Kein Fauchen, kein Schreien. Ab und zu ist das Zischen des Turboladers zu hören.
Seine Bremsen arbeiten erst, wenn sie auf Temperatur sind. Die Fenster öffnen gerade so zur Hälfte. Ein Tester mäkelt, dass in den Kofferraum nur eine Zahnbürste und eine Kreditkarte passen. Immerhin: Die Komfortfunktionen sollen kaum Probleme machen. Der Innenraum sieht anders aus als im spartanischen Ferrari F40. Leder, hochwertige und weiche Materialien lösen eher ein wohliges, als ein Rennfahrergefühl aus.
Eine große Wartung mit Zahnriemen und Tank kann mehr als 100.000 Euro kosten. Immerhin: Ersatzteile sind vorhanden, weil wenige Besitzer ihre Autos tatsächlich bewegen. All das ist vergessen, wenn der XJ220 fährt. Denn mit 2,22 Metern Breite und nur 1,15 Metern Höhe erregt er mehr Aufmerksamkeit als jeder aktuelle Jag. Wer ihn fährt, fühlt sich wie eine Urgewalt, die durch die Landschaft donnert. Am besten weit weg von allem, was stört. Und das ist für XJ220-Fahrer quasi jeder andere Verkehrsteilnehmer. Dann löst allein die Tatsache, in diesem Auto zu sitzen, Rockstar-Gefühle aus. Gemeinsam steigert man sich nach den ersten Kilometern Warmfahren (die braucht es zwingend) zu einem dröhnenden Orkan.
Ein teures Spielzeug: Der seltene Sportwagen kommt 1987 auf den Markt und gilt als Technikwunder seiner Zeit.
Mit neuen Reifen wird der XJ220 interessant
Reifenhersteller Bridgestone legt die Reifengröße für den XJ neu auf. Seit Juni 2017 kann man die Gummis kaufen. Mittlerweile sind die Autos so teuer wie bei ihrem Start, wenn man die Inflation ausklammert: Vier Autos sind bei mobile.de inseriert, drei davon in Deutschland. Sie kosten rund eine halbe Million Euro.
Die Sphären eines Ferrari F40 erreicht der XJ220 damit noch nicht, der kostet mindestens das Doppelte. Aber das hässliche Kätzlein von 1992 rappelt sich auf. Sein missglückter Start wird ihm wohl stets anhaften. Aber seine Rekorde kann ihm keiner nehmen. Ihm fehlen ein paar km/h? Geschenkt. Aus freiwilligen Hausaufgaben wurde nie etwas Schnelleres.
Jaguar XJ220 (1992-1994): Technische Daten
Modell | Jaguar XJ220 |
---|---|
Motor | 3,5-Liter V6-Biturbo |
Getriebe | Fünfgang-Handschaltung |
Leistung | 550 PS (404 kW) bei 7.200 U/min |
Drehmoment | 645 Nm bei 4.500 U/min |
Verbrauch | 8,8 l/100 km (laut damaliger Herstellerangabe) |
0-100 km/h | rund 3,6 sek |
Geschwindigkeit | 354 km/h laut Angabe, 341 km/ beim Rekordversuch |
Länge | 4.930 mm |
Breite | 2.220 mm |
Höhe | 1.150 mm |
Radstand | 2.640 mm |
Leergewicht (EU) | rund 1.400 kg |
Grundpreis bei Verkaufsstart | 1.000.000 DM |
Fertigungszeitraum | 1992 bis 1994 |
Marktpreis (2020) | ca. 500.000 Euro |
Der Jaguar XJ220 (Galerie)
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