Baukästen im Automobilbau: Hintergründe, Vorteile, Risiken
Viele moderne Autos basieren auf Baukästen. Wie das genau funktioniert? Und was es für unsere Fahrzeuge und zukünftige Modelle bedeutet? Erfährst Du hier.
Für den Autokäufer bedeutet Vielfalt: Auswahl, Individualität, Eigenständigkeit. Er findet auf jeden Fall das richtige Auto. Vom Kleinwagen bis zur Oberklasse, vom Cabriolet bis zum Van, vom teilelektrischen Spritsparer bis zum V12-Boliden mit 600 PS. Vielfalt macht die Autowelt bunt und interessant.
Für die Hersteller bedeutet Vielfalt allerdings hohe Kosten. Jede einzelne Entwicklung ist teuer und aufwändig. Alles muss neu erfunden, entworfen, angepasst und abgenommen werden. Prozesse, die sich über Jahre hinziehen können. Wenn heute ein neues Auto auf den Markt kommt, hat die Entwicklung seines Nachfolgers oft schon begonnen.
Deshalb lohnt es sich für Autobauer, ihre Technik möglichst breit einzusetzen. Einige kooperieren mit anderen Herstellern, um die Entwicklungskosten zu teilen. Andere bemühen sich im eigenen Konzern, Allrounder zu entwickeln – Bausteine, die in mehreren Modellen und Klassen eingesetzt werden können.
Damit das funktioniert, konstruieren Autobauer sogenannte Fahrzeug-Architekturen. Man spricht auch von Baukästen oder Plattformen. Gemeint ist stets dasselbe: Bedingungen, an die sich ein neues Auto halten muss. Bestimmte Parameter sind festgelegt und werden innerhalb einer Generation nicht verändert. Zum Beispiel der Abstand zwischen der Radmitte der Vorderachse und A-Säule oder die Neigung des Motors. Andere Module sind variabel. So lassen sich Fahrzeuge in unterschiedlichen Segmenten mit den gleichen Bauteilen ausrüsten.
Motoren als gemeinsamer Nenner der Plattform-Strategien
Besonders offensichtlich praktizieren viele Hersteller dieses Baukastensystem bei Motoren. Beispiel VW: Der 1,5-Liter-Turbobenziner treibt Polo, Golf, Golf Sportsvan, Passat, Arteon, Touran, T-Cross, T-Roc und Tiguan an. All diese Modelle bauen auf der gleichen Architektur auf. Deshalb passt der Motor hinein, ohne dass VW ihn verändern muss. Konzernweit nutzen sogar noch mehr Autos den Vierzylinder.
Ähnlich läuft es bei anderen Herstellern. BMW baut den B47, einen 2,0-Liter-Diesel (in zwei Versionen), in 1er, 2er, 3er, 4er, 5er, X1, X2, X3 und X4 sowie in den Mini Cooper ein. Für jedes Modell einen eigenen Motor zu entwickeln, wäre viel zu teuer. Ein fertiges Aggregat lässt sich aber mit überschaubarem Aufwand auf bestimmte Fahrzeuge abstimmen.
Ein Fortschritt, obwohl die Idee eines Motors für viele Autos alt ist. Früher war man mit dem Auto selbst aber weniger konsequent. Das führte dazu, dass es leicht abgewandelte Formen desselben Motors gab. Einen Volumendiesel (1.9 TDI) baute VW in mehr als 100 Varianten. Der Großteil unterschied sich nur anhand von teuren Kleinigkeiten.
Mittlerweile passen Motoren „einfach so“ in die Autos. Innerhalb einer Leistungsklasse sind die Antriebe mechanisch identisch, wenn sie für denselben Baukasten vorgesehen sind. Der VW-Benziner unterscheidet sich als Polo-Motor nur aufgrund seiner Software vom Passat-Antrieb. Das hat auch logistische Vorteile: Bei Motorenwerken und Lieferung müssen weniger Parameter beachtet werden.
Verringerte Entwicklungsarbeit, maximale Streuung
Oft gehören die Motoren selbst zu einem eigenen Baukasten. Einige Hersteller leiten die großen Aggregate von den kleinen ab – oder umgekehrt. BMW baut 3-, 4- und 6-Zylinder-Reihenmotoren nach diesem Prinzip. Ein Motor ist oft eine verlängerte oder verkürzte Version des anderen. Fiat und Mazda tun es ähnlich, Mercedes macht aus zwei Vierzylindern einen V8.
Weitere Teile des Antriebs folgen ebenfalls dem Baukastenschema. Schaltgetriebe oder Automatikgetriebe kommen in verschiedenen Modellen zum Einsatz. Die Bremsanlage passt zu Motor, Gewicht und Charakter des Fahrzeuges, stammt aber meist aus dem Regal und kommt auch in anderen Fahrzeugen zum Einsatz. Wieder geht es um minimale Entwicklungskosten und maximale Verbreitung.
Diesel-Hybride auf mobile.de finden
Ähnlich läuft es bei den Infotainment-Systemen. Auch hier entwickeln die Hersteller oder ihre Zulieferer fertige Elemente, die in die Architekturen der Fahrzeuge passen. Weniger Vielfalt in der Technik bedeutet niedrigere Kosten. Wie weit das geht, zeigt Audi: Der überarbeitete A4 ist stets mit großem Infotainment inklusive Navigation ausgerüstet. Das Navi selbst kostet trotzdem Aufpreis. Bezahlt der Kunde die Funktion nicht, ist sie einfach nicht aktiviert.
Damit der gleiche technische Baustein für den Kunden in verschiedenen Autos unterschiedlich aussieht und sich auch so anfühlt, überlegen sich Hersteller Alleinstellungsmerkmale für bestimme Marken und Modelle. Ein volldigitaler Tacho kann in einem Auto klassische Rundinstrumente anzeigen, im nächsten futuristische Grafiken oder ein eigenes Farbschema.
Frühzeitige Planung für eine Architektur
Ein Hersteller muss sich früh überlegen, was sein Baukasten können muss. Dieselmotoren benötigen Platz für die aufwändige Abgasreinigung. Elektroautos sind auf große Akkus angewiesen, Erdgas-Fahrzeuge auf Platz für die Gasflaschen. Plug-in-Hybride kombinieren Batterie und Tank. Lohnt sich das Einplanen aller Möglichkeiten? Oder kann man auf bestimmte Antriebe komplett verzichten? Das würde Kosten und Vielfalt senken.
In bestimmten Bereichen ergibt das Weglassen bestimmter Funktionen Sinn. Die Kombination aus Elektro- und Verbrennerplattform ist immer ein Kompromiss. Kleinwagen werden langfristig keine Dieselmotoren mehr bekommen und in großer Zahl auf Allradantrieb verzichten. Dadurch werden ihre Plattformen simpler und günstiger.
Ein weiterer wichtiger Punkt in der Gestaltung von Plattformen sind Assistenzsysteme. Sämtliche Sensoren und Aktoren müssen eingeplant sein. Ohne eine elektromechanische Servolenkung gibt es keinen Lenkeingriff beim Spurassistenten, ohne Radarsensoren oder Kameras keine Autonomie. Der Umfang der Sonderausstattungen muss also lange vor der Entwicklung eines Modells feststehen.
Wenn bestimmte Bauteile kurzfristig ergänzt werden sollen, gibt es Probleme. VW schaffte es nicht rechtzeitig, für den Arteon ein Head-up-Display zu entwickeln, das auf die Frontscheibe projiziert. Das vorhandene Bauteil passte nicht in den Baukasten. Als Zwischenlösung blendet das Modell die Daten auf einer ausfahrbaren Scheibe ein.
Ein Baukasten ist nicht genug
Großen Herstellern und Konzernen genügt eine einzige Architektur nicht. Volvo setzt einen Baukasten für kleine Modelle (bis XC40), den anderen für große ein (ab S60). BMW nutzt eine Architektur für Autos mit Quermotoren (1er, X1, X2, 2er Tourer), die andere für Fahrzeuge mit Längsmotoren (alle anderen Limousinen und SUV). Im VW-Konzern gibt es allein zwei Baukästen für reine Elektromodelle, drei weitere für die meisten Verbrenner.
Viele Gleichteile machen die Autos ähnlich, aber nicht austauschbar. Jedes Modell bekommt eine eigene Abstimmung, stets mit Blick auf Markenstrategie und Modellphilosophie. Wichtige Elemente wie Radstand, Spurbreite, Maße der Überhänge und Fahrzeughöhe sind variabel. Fahrverhalten und Proportionen lassen sich – bis zu einem gewissen Grad – frei bestimmen.
Eine Plattformstrategie bedeutet im Automobilbau nicht die Verwendung einer identischen Bodenplatte für mehrere Autos. Es geht um die Möglichkeit, aufwändige mechanische Bausteine so oft wie möglich zu verwenden. Je mehr Autos mit einem bestimmten Element ausgerüstet sind, desto niedriger waren die Entwicklungskosten pro produziertem Bauteil.
Mit den Einsparungen kommt allerdings das Risiko. Ein millionenfach verbautes Element darf nur eine sehr geringe Ausfallquote haben. Selbst bei einem Fehler, der in 0,1 Prozent aller Fälle eintritt, leiden tausende Kunden.
Die gute Nachricht: Mit geschickten Kooperationen und Baukasten-Strategien bekommen Modelle eine Chance, die sich normalerweise nicht lohnen würden. Toyota baut die fünfte Generation der Supra als Derivat des BMW Z4. Ohne diese Verbindung würde es den Sportler heute nicht mehr geben.